Initium sapientiae timor Domini – Gedanken zum Leitbild der Heimschule Lender

Festvortrag zum Altsasbachertag 2013

Aus Anlass des aktuellen Lenderjahres hat sich das Lehrerkollegium der Heimschule Lender auf vielfältige Weise mit der Person und dem Erbe von Franz Xaver Lender auseinandergesetzt. Eine eigene Arbeitsgruppe zum Leitbild der Schule beschäftigte sich mit dem Wahlspruch, den unser Schulgründer seiner Einrichtung mit auf den Weg gab. Zwei Mitglieder dieser Arbeitsgruppe wurden vom Vorstand des Altsasbachervereins eingeladen, den diesjährigen Festvortrag zu halten: Frau Dr. Müller-Abels (im Folgenden „M“), die Latein und katholische Religion unterrichtet, und Herr Dr. Feigenbutz (im Folgenden „F“) mit den Fächern Latein, Griechisch und Hebräisch. 

Sehr geehrte Damen und Herren,

auf der Suche nach klugen Gedanken zum Leitbild der Heimschule Lender sind wir – genauer gesagt, meine Kollegin Frau Dr. Müller-Abels und ich – auf ein Plattencover gestoßen, das wir Ihnen auf keinen Fall vorenthalten möchten.

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Dieses Bild ist nicht das Leitbild … , aber es steht in einem gewissen inneren Zusammenhang mit diesem. Vor allem aber veranschaulicht es – nicht zuletzt in den grimmigen Farbtönen der Mode der 70er Jahre – einen Satz des frühen griechischen Philosophen Heraklit: Wir steigen zweimal in den selben Fluss und doch nicht in den selben Fluss. Der Chor und das Orchester, das wir sehen, gehören zu unserer Schule und doch zu einer völlig anderen Welt.

Unseren Schülern heute müsste man schon das Format und die Medienart erst einmal historisch erklären: Bei Ihnen gehen wir davon aus, dass Sie größtenteils mit Vinyl-Schallplatten und deren Hüllen noch vertraut sind. Was sie sehen, ist das Cover einer Schallplatte, die unmittelbar nach den Feiern zu 100-jährigen Jubiläum der Heimschule entstanden ist. Sie ahnen schon, wer für die Musik auf dieser Platte verantwortlich zeichnet: zum einen Joseph Karch, der für das damalige Jubiläum die Messe zu Ehren des Hl. Franz Xaver komponierte, zum anderen Freddy Weber, dessen Vertonung des Lendermottos Initium sapientiae timor Domini damals uraufgeführt wurde. Beide Werke gibt es an diesem Altsasbacherwochenende zu hören – die Messe hören Sie morgen im Gottesdienst, Initium sapientiae haben Sie heute und hier schon zu hören bekommen.

Der Text, den Freddy Weber vertont hat, ist mehr als ein Motto: in ihm steckt das ganze Leitbild der Heimschule Lender. In seiner Vertonung spiegeln sich drei Aspekte, oder besser, drei Stadien der Auseinandersetzung mit diesem Satz: Der erste Teil thematisiert in moderner Tonsprache mit vielen Zäsuren die Verwunderung, ja das Erschauern, das dieses große Bibelwort auslöst. Im zweiten Teil wird der Spruch in modalem g-Moll hinterfragt, gerade die offenen dominantischen Phrasen-Schlüsse sind ja regelrecht musikalische Fragezeichen; und im dritten Teil wird der Spruch freudig und beschwingt angenommen. Ihrem fachkundigen Ohr ist das ja alles nicht entgangen…

Über das Erschauern vor dem Wahlspruch der Heimschule wollen wir uns hier und heute nicht weiter äußern; da kennen Sie sich als Altsasbacher ja bestens aus. Mit der freudigen Annahme steht es vermutlich ähnlich: Dieser Effekt wird ja mit jedem Jahr, das einen von der eigenen Schulzeit trennt, stärker. Aber das Hinterfragen, das lassen wir uns heute nicht nehmen; und so wollen wir jetzt ein wenig ergründen, was Lender uns mit diesem Satz eigentlich sagen wollte.

Wir haben uns in diesem „Lender-Jahr“ schon viele Gedanken gemacht, die auf der Homepage der Schule nachzulesen sind. Da wir vor einem Publikum von Altsasbachern davon ausgehen dürfen, dass unsere Zuhörer des Lesens mächtig sind, halten wir es für überflüssig, ja langweilig, das dort Veröffentlichte zu wiederholen. Stattdessen möchten wir eine andere Perspektive auf das Lender-Motto anbieten: Die Perpektive der Lehrer.

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Initium sapientiae timor Domini – der Anfang der Weisheit ist die Ehrfurcht vor dem Herrn (Ps 111, 10) – ist Leitspruch von vielen Bildungseinrichtungen und für fromme Christen sehr vertraut. Es war einfach naheliegend, diesen Leitspruch zu wählen.

Bisher gibt es keine Hinweise, dass Lender die Wahl dieses Mottos irgendwo begründet hat. Für uns bedeutet das: Wenn wir eine historische Begründung wollen, müssen wir uns mit der Person Lenders auseinandersetzen. Das ist im derzeitigen Jahr des hundertsten Todestages vielfach in Vorträgen und Ausstellungen geschehen.

Der Eindruck, der davon bleibt, ist der: Lender war von seiner Jugend an bis zum Ende seines Lebens ein freiheitsliebender Mann, einer, der seine Überzeugungen auch gegen Widerstände durchgesetzt hat, einer, der unerschrocken staatlichen oder kirchlichen Autoritäten trotzte, wenn sie im Widerspruch zu dem standen, was er als richtig erkannt hatte. Trotzdem – oder deswegen? – hat er den Beruf eines Priesters in der Katholischen Kirche gewählt, und er ist Politiker geworden.

Priester – Pfarrer – Seelsorger, das ist jemand, dessen Hauptaufgabe darin besteht, sich um das Heil der ihm Anvertrauten zu kümmern. Lender hat das offensichtlich ganzheitlich verstanden. Das zeigen seine vielfältigen Werke, von denen die Heimschule nur eines ist. Er hat sich nicht nur um das geistige Wohl der Menschen gekümmert, sondern auch um ihr leibliches und materielles. Dafür stehen das Waisenhaus in Schwarzach, die Volksbank in Sasbach, seine 40-jährige Tätigkeit als Zentrumsabgeordneter im Badischen Landtag und im Reichstag in Berlin.

Meine These ist also: Wenn das Schulmotto eine besondere, eigene Bedeutung für unsere Schule in der Gegenwart haben soll, kann diese Besonderheit nur in engem Zusammenhang mit dem Gründer verstanden werden, der dieses Motto gegeben hat. Jede Deutung dieses Mottos muss sich an der Person, dem Leben und Handeln von Franz Xaver Lender messen lassen.

Was Lender als Person besonders auszeichnete, ist, dass er ununterbrochen zum Wohle der Menschen in seinen Pfarreien dachte, plante und handelte.

Diese Menschen waren überwiegend Bauern und Handwerker, Bürger der umliegenden Kleinstädte, also die sogenannten „kleinen Leute“, Leute ohne Standesprivilegien, Leute, die hart für ihr tägliches Brot arbeiten mussten.

Lender hatte (unter vielem anderen) beschlossen, diesen Leuten, ihren Kindern, Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Dieser Ansatz ist vom 16. Jahrhundert, als die ersten Kollegien der Jesuiten entstanden, bis heute in der Arbeit der (kirchlichen) Hilfsorganisationen für die Menschen in der dritten und vierten Welt der Königsweg, um Menschen aus Not und Unterdrückung in ein freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Lender hat zu diesem Zweck eine Schule gegründet. Weil er aber gesehen hatte, dass zu umfassendem Wohlergehen neben der Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern auch die Sorge um die Seele – wir sagen heute „Psychische Gesundheit“ – gehört, gründete er eine Schule, deren erklärtes Ziel es war, auch Seelsorger, künftige Priester, heranzuziehen. Soweit wir bisher wissen – die Auswertung des schriftlichen Nachlasses, z. B. der Predigten Lenders, steht noch aus – war er mehr ein Mann der Tat als der Worte, so dass wir heute aus seinen Taten auf seine Absichten schließen müssen.

Daraus, aus seinen Werken, können wir, die wir Schule an „seiner Anstalt“ machen, ablesen, wie sein Vermächtnis – dazu gehört auch das Leitwort „Der Anfang der Weisheit ist die Ehrfurcht vor Gott“ – heute mit Leben erfüllt werden kann.

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Das tun wir ja auch ganz gründlich: Wir haben Schulseelsorge, Compassion, Goldene Regeln, Mediation, Streitschlichter, SMV-Arbeit, Klassenrat, LGS, Förderprogramme, seit neuestem auch ein Sozialpädagogisches Gymnasium, und das in friedlicher Koexistenz mit den alten Sprachen.
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Schön und gut – aber trifft das den Kern der Sache?
M

 

Wie meinst du das? Hast du etwa was gegen die alten Sprachen?
F

 

Im Gegenteil, die Alten Sprachen leisten einen sehr wichtigen Beitrag zu dem, was Lender wollte. Das erste Fach, das im damals Sasbacher Pfarrhaus unterrichtet wurde, war Latein. Aber von den Alten Sprachen einmal abgesehen ist alles, was Du genannt hast, irgendwie formal und institutionell. So gut und wichtig diese Dinge auch sind: Entscheidend ist, wie sie mit Geist und Leben erfüllt werden, und da kommt es vor allem auf Menschen an.
M

 

Wer erfüllt die Schule mit Leben? Natürlich bringen die Kinder sehr viel Lebendigkeit mit. Aber die wechseln ja ständig; und sie müssen in das Lender-Leben erst hereinwachsen. Von ihnen können wir noch nicht erwarten, dass sie diese Tradition weitergeben. Dazu braucht es mehr Kontinuität, und die können eigentlich nur wir herstellen: die Lehrer.
F

 

Die Lehrer?

Viele von uns sind „zufällig“ an der Heimschule, weil es hier eine freie Stelle in der passenden Fächerkombination gab, nicht, weil uns die Schule oder gar das Leitbild besonders gut gefiel.

Wir sind  nach den neuesten und immer wieder sich ändernden Standards ausgebildet, kompetenzorientiert, standardbasiert, handlungsorientiert…

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… allseits versiert, überqualifiziert, desorientiert, vielleicht auch schon desillusioniert?
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Und dann werden wir beim Einstellungsgespräch mit der Gretchenfrage der Schulstiftung konfrontiert: „Wie hältst Du’s mit der Religion“?
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Was antworten wir darauf? Unsere eigene Lebenswirklichkeit ist oft: schwierige Stellensuche, schwierige Familiensituation, instabile oder gescheiterte Partnerschaften, der Versuch, Beruf und Erziehung von Kindern irgendwie unter einen Hut zu bringen … Religion ist entweder kein Thema, mit dem wir uns intensiver beschäftigen, oder sie ist ein Thema, das negativ besetzt ist.
F

 

Wir erleben eine Kirche, die sich als moralische Instanz gebärdet, sich selbst jedoch – in ihren Amtsträgern – nicht an ihre Maßstäbe hält, deren Einhaltung aber von uns qua Arbeitsvertrag einfordert.

Wie gehen wir da mit dem Anspruch des Leitwortes um? Manche von uns ignorieren ihn, manche lehnen ihn ab: Die „Ehrfurcht vor Gott“, „Timor Domini“, wird zur Angst vor Gott: Gott, der in Gestalt der Schulstiftung die Einhaltung von Regeln fordert und bei Nichtbefolgen mit Verlust des Arbeitsplatzes bestraft.

Da wird einiges an Anpassung verlangt. Wie war das mit Lenders ersten Lehrern? Waren die politisch korrekt? Sperrlinge, Priester mit Berufsverbot, – wie waren die in der Kirche angesehen? Solche Leute anzustellen: war das eine Provokation oder einfach pragmatisch? Latein konnten sie wohl – aber konnten sie auch mit Kindern umgehen? Und was heißt das für die heutige Einstellungspolitik?

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Neben der Schulstiftung mit ihren Ansprüchen haben wir es auch mit der modernen Zivilgesellschaft und wirtschaftlichen Interessen zu tun. Die Schule wird zunehmend unter ökonomischen Gesichtspunkten gesehen. Statt Weisheit zählt Leistung, statt Bildung Kompetenz. Die Schüler werden ihres Eigenwerts beraubt und als menschlicher Rohstoff für die Wirtschaft betrachtet, die Bildung wird nach ihrer ökonomischen Verwertbarkeit beurteilt. Dass alle großen Bildungsstudien der letzten Jahre von Wirtschaftsorganisationen gekommen sind, zeigt deutlich, woher hier der Wind weht. Diese funktionelle Perspektive auf die Schüler ist zutiefst unmenschlich und steht zu dem Menschenbild, das aus Lenders Handeln spricht, in diametralem Widerspruch. Wir erinnern uns an das vorhin Gesagte: Lender wollte dem Menschen in seinen materiellen wie seelischen Nöten helfen und ihm durch Bildung ein freies, selbstbestimmtes Leben ermöglichen, der ökonomische Ansatz dagegen will ihn zum Instrument machen und zu seinen Zwecken benutzen.

Dieser zweckorientierte Ansatz ist heute sehr en vogue und hat auch Auswirkungen darauf, wie Eltern die Schule wahrnehmen. Auf einer Elternversammlung an der Heimschule fiel vor wenigen Wochen der denkwürdige Satz, die Schule habe die Pflicht, für die entsprechenden Abitur-Durchschnitte zu sorgen.

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Kommt es da nicht auch ein wenig auf die Kinder an?
M

 

Eigentlich schon. Natürlich wollen wir unseren Schülern dabei helfen, dass sie einen guten Abschluss erreichen. Aber wenn Eltern hier die Schule mehr in der Pflicht sehen als die eigenen Kinder, zeigt das, was Schule für solche Eltern ist: keine Bildungsanstalt, sondern ein Dienstleistungsunternehmen.
F

 

Dienst an wem? Am Schüler! In unserem Leitwort geht es doch um eine grundlegende Einstellung zu Gott und damit zum Menschen. Ehrfurcht vor Gott bedeutet: Ich erkenne an, dass Gott immer größer ist. Aber gerade dieser Gott ist in Jesus Mensch geworden und hat uns so gelehrt, dass wir Ihm in jedem Menschen begegnen, in jedem Schüler, in jedem Kollegen, in den Eltern…
M

 

Gilt das auch für jeden Schüler, der meinen Unterricht stört und mich immer wieder zur Weißglut bringt? Oder auch für den Abiturienten, den ich, kaum dass er die letzte Prüfung abgelegt hat, besoffen und hilflos auf dem Parkplatz zwischen Pizzakartons und Glasscherben auffinde? Gilt das auch für Eltern, die mich nach 22 Uhr noch in lange Telefongespräche verwickeln? Um von den Kollegen und Kolleginnen gar nicht erst anzufangen…
F

 

Du hast Recht, es gibt natürlich Situationen und Fälle in unserem Alltag, in denen das schwer fällt. Andererseits ist die Sachlage nach dem Zeugnis der Bibel eindeutig: „Gott schuf den Menschen nach seinem Abbild, als Abbild Gottes schuf er ihn.“ – auch den betrunkenen Abiturienten. Auch wenn man ihm in dieser Situation von seiner Würde nichts anmerkt, kann sie ihm keiner nehmen – noch nicht einmal er selbst. Er ist und bleibt Ebenbild Gottes. Wenn wir das ernst nehmen, ändert sich alles!
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Was ist dann das Wichtigste, das wir als Lenderschule unseren Schülern fürs Leben mitgeben wollen?
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Du meinst, außer der Ehrfurcht vor Gott? Freiheitsliebe …
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Den eigenen Kopf benutzen …
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Zivilcourage …
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Autoritäten kritisch hinterfragen …
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Ganz wichtig für junge Menschen: Selbstbewußtsein!
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Á propos Selbstbewußtsein: Da muss ich unbedingt noch einmal auf das Schallplattencover vom Anfang zurückkommen:
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Du hast recht: Ohne Selbstbewußtsein hätte man solche Frisuren nicht tragen können …
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Geschweige denn solche Hosen!
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Unsere Generation schreckt noch immer vor nichts zurück. Wir sind geprägt vom Kampf gegen Autoritäten und Konventionen, auch gegen das eigene Elternhaus. Das hat deutliche Parallelen zu Lenders Jugend.
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Unseren heutigen Schülern wirft man das Gegenteil vor: Man sagt, sie seien zu angepasst und flöhen vor einer Realität, der sie sich nicht gewachsen fühlten, in virtuelle Welten.
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Ob sich wirklich so viel geändert hat? Immerhin ist die Big-Band ganz real hier, nicht nur virtuell. Die Schüler haben heute das gleiche Stück gespielt wie damals; zwar in einer anderen Besetzung und in einem anderen Arrangement, aber trotzdem die gleiche Musik mit der selben Aussage: Initium sapientiae timor Domini – die Ehrfurcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit.
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Wenn uns das, was Freddy Weber mit seiner Musik gemacht hat – das Bewährte in neue Formen zu bringen und es so mit neuem Geist und neuem Leben zu erfüllen – , wenn uns das also mit Lenders Schule gelingt, dann ist es nicht zuletzt unser ererbter Leitspruch, der eine über 130 Jahre alte Schule immer noch jung hält und beschwingt — bzw. beswingt.
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