Altsasbachertage 2011

Erinnerliches und Nachdenkliches eines Altsasbacher Jubilars zum Abiturium aureum: „Gratias agimus“; Dr.me.d Herbert Bolze

 

Edle Kronjubilare, liebe Sasbacherinnen!

Hochgeehrter Herr Direktor Großmann! Lieber Gerd, lieber Bernd! Hohe Festcorona!

Zu Beginn ein Goethe Wort:

„… und keine Macht und keine Zeit zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ ist mir als ein Aufsatzthema Dr. Effingers vor über 50 Jahren hier an der Heimschule noch in Erinnerung. Darüber habe ich geschrieben („Wer schreibt, bleibt“). Aber heute soll ich reden und werde es nach dem Lender-Wort tun: „15′ pro populo, 30′ pro nihilo, 45′ pro diabolo“ –  frei nach den auf Schillers „Die Künstler“ parodierten Versen: „Eh‘ vor des Denkers Geist der kühne/Begriff ewigen Dankes stand,/stieg er hinab von dieser Bühne/als ahnend er ihn schon empfand.“

Ich war vermessen zu ahnen, an diesen Ort darfst du noch einmal zurück, um zu danken. Was war passiert?

Vor 50 Jahren drückte mir „in hoc loco“ Direktor Wilhelm Benz das Reifezeugnis mit der Bemerkung in die Hände: „Bolze, geh nun deinen Weg weiter, net wahr“. Ich lief zum Medizinstudium nach Freiburg in die Arme von Prälat Dr. Alois Stiefvater, dem damaligen Diözesanmännerseelsorger und Erbauer des Kolpinghauses. Er schenkte mir seine Schrift „Gottes Reich in unserer Heimat“ und meinte dazu, es stünde einem werdenden Arzt gut an, auch in Freiburg weiter über den großen Kirchenmann von seltener sozialer Kraft Franz Xaver Lender — „ein verkanntes Genie“ — zu reflektieren und zu recherchieren.

Verbindung

Mit dem Lender-Abitur, dem größten Geschenk meines Lebens, – sicher empfindet ihr das ähnlich — standen Tür und Tor offen, sogar zum Eintritt in Lenders erste soziale Vereinsgründung von 1850, die heute noch in Freiburg existierenden Katholische Deutsche Studentenverbindung Arminia in CV und KDV, die ich 1963/64 als Senior unter dem Motto: „Mensch sein heißt Verantwortung fühlen“ leiten durfte. Nur Pflichtstudium hätte mich nicht befriedigt, vielleicht sogar schwunglos gemacht. Prinzipien müssen ins Leben hineingelassen werden: „…wir stehen treu bis an des Grabes Rand mit Gott für Kirche, Recht und Vaterland“ hat der Lenderschüler und Religionslehrer an der Heimschule Lender und spätere Freiburger Armine, Heinrich E. Baudouin 1883 gedichtet. Daraus wurde das Arminen-Bundeslied. Es wird heute noch zu allen Studentenverbindungsfestlichkeiten gesungen, zuletzt auf dem Papstkommers am 23.09.2011 auf dem Arminenhaus in Freiburg und am 6.12.2011 hier an Lenders Grab zum 160. Stiftungsfest und 180. Geburtstag. Im „Konradsblatt“ und in der „ACADEMIA“ wurde darüber berichtet.

Unser unvergessener Bundesbruder, der Widerstandskämpfer Reinhold Frank aus Karlsruhe, hat selbst in dunkelster Nacht diese Treue bewahrt. Er

wurde von den Nationalsozialisten nach dem 20. Juli 1944 in Berlin-Plötzensee

erhängt. Auch Lender gehört in die Reihe deutscher Patrioten. Vikariell für seine Tapferkeit und seinen Mut erinnere ich an die bei Strafandrohung durch

die badische Regierung verbotene Verlesung des Hirtenbriefes unseres Namensgebers Erzbischof Hermann v. Vicari 1854 in der Offenburger Stadtkirche auf dem Höhepunkt des badischen Kirchenstreites. Lender musste damals durch das Sakristeifenster flüchten, weil die Polizei am Kirchenportal zu seiner Verhaftung bereit stand.

Nach der Zeit der Bedrängnis in einem menschenverachtenden System, das Atheismus verordnet hatte, fand ich mit Hansfried Heier 1956 nach der Flucht

aus der „DDR“ in der Heimschule Lender den Hort, der offen, einladend und lebensbestimmend wurde. Hier fühlten wir uns daheim. Das war der Kompass, der uns in die Mitte führte, in die gottnahe Heimat hier nach Sasbach:

„Die Krähen schrei’n und ziehen flugs zur Stadt:/Bald wird es wieder schnei’n — wohl dem, der jetzt noch Heimat hat“ schrieb sich Friedrich Nietzsche einst seine innere Heimatlosigkeit von der Seele. Wir waren in Sasbach zu Hause. Dort konnten wir nach dem Durchgang durch drei Lager innehalten, entschleunigen und zu uns kommen.

Prinzipien 

In der Leipziger „Neueste Nachrichten“ war ein Nachruf vom 02.08.1913 zu lesen: „Lender blieb ein einfacher, schlichter Landpfarrer, ein Beweis wieder, dass es der Geist und die Persönlichkeit sind, die Geschichte machen“. In unserer Zeit der Entsolidarisierung, Spaltung, Isolierung und Heimatlosigkeit weht noch heute Lenders Geist in der Altsasbacher Solidarität im Sinne der Unitas; sein liebevoller Geist als gemeinschaftsstiftende Caritas. Zu Lenders Freiheitsbegriff Libertas verweise ich auf ein immer noch aktuelles Selbstzeugnis aus dem Jahre 1852, von ihm handschriftlich auf einen Buchdeckel geschrieben: „Es lebe die Freiheit des Heiles der Christen, nicht die fälschliche Freiheit des Egoismus“. Heutzutage leiden wir eher an der Freiheit als um die Freiheit. Sie scheint in Zügellosigkeit auszuarten. Die Gesellschaft zerfällt immer mehr in egoistische Individuen; der Generationenvertrag bricht weg.

Pädagogik

Franz Xaver Leopold nahm schon als 17-jähriger Schüler aktiv als Radikaldemokrat 1848 am Heckerzug teil. Er wollte als Politiker die katholische Kirche von den unwürdigen Fesseln der Bevormundung und Unterdrückung durch die nationalliberale badische Regierung befreien. Deswegen legte er auch den Namen Leopold ab. Auch von der „Erlösung des Volkes aus der drückenden Abhängigkeit von Kapitalismus“ war damals schon laut A. Stiefvater (mündliche Mitteilung) die Rede. Lenders Pädagogik-Folgen haben wir Jubilare in unserer Internatszeit noch am eigenen Leibe verspürt — in keiner Weise „missbräuchlich“. Hier nur eine kurze Stellungnahme zu den sattsam bekannten Vorwürfen vor diesem Forum aus Sasbacher Perspektive: Die bösartigen, weil immer sich wiederholenden Verallgemeinerungen von fraglos schlimmen, aber eben doch relativ wenigen Vorkommnissen (0,1 %) rücken allmählich in die Nähe des Wahns — als gäbe es nur noch Missbrauch in unserer Kirche. Ich spreche hoffentlich für alle Jubilare: Im F-Bau mit 40 Betten-Sälen hätten wir doch mitbekommen, wenn da so viel „gelaufen“ wäre. Wir waren Tag und Nacht zusammen und haben über alles gesprochen; z. B. wusste ich, wer eine verbotene Freundin in Achern, (das Kupferdächle in der Lindenbrunnenstrasse net wahr, Wittmer), die Königin oder Lotti Rath in Renchen hatte oder gar das damals erst 15-jährige Fräulein Zimmermann in Margrethausen. Wir sollten den Missbrauch-Verallgemeinerungen geduldig argumentativ durch gelebtes Leben entgegentreten. Unsere Kirche bestand in ihrer über 2.000-jährigen Geschichte weder nur aus Inquisition noch ist sie heute eine Einrichtung des Missbrauchs.

Was geschah wirklich in Sasbach? Dazu ein Bild: Der Wein ist hierzulande die Inkarnation der Kultur, in der wir leben. Reben müssen am Stock hochgebunden werden, damit sie sich nach oben befreien können, sonst vergammeln sie am Boden („Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf „, F. Nietzsche). Der freiheitliche Mensch braucht Bindung und Verbindung. Franz Xaver Lender hat die Religion, sein Gottvertrauen, über alles gestellt und sich damit — auf irdische Zwänge gesehen – grenzenlose Freiheit verschafft: „Wie Gott will“, waren seine letzten Worte. Diese Demut sollte uns Vorbild sein. Vor sieben Wochen fuhr ich mit dem Orient-Express von Paris über Sasbach nach Istanbul und stand plötzlich vor der Hagia Sophia, der Kirche der heiligen Weisheit, einem unaussprechlich schönen Gotteshaus.  Ich ließ mich vom INITIUM SAPIENTIAE  TIMOR DOMINI überwältigen. Ein frommer Schauer gab mir das Gefühl grenzenloser Freiheit. So spannen wir die Segel aus und lassen Lenders freiheitlichen Geist in der öden Vermassung, Gottesfinsternis und geistlosen Uniformität im Streben des Einzelnen nur nach egoistischer Entfaltung wehen. Diesen Zeitgeist gilt es in der „Diktatur des Relativismus“ zu erkennen und zu benennen. Jawohl, wir bekamen in der „Lender“ ein stabiles Wertegerüst, an dem wir uns in der heimatlosen, gespaltenen, „liberalen“ Welt, die Gott mehr und mehr vergisst, orientieren können.

Unsere Lender-Lehrer waren keine „faulen Säcke“. Ihr Dienst an uns endete längst nicht mit dem Stundenglockenzeichen! Dankbar erinnern wir uns an den Sondereinsatz Dr. Effingers vor dem Abitur: Wie viele Sannstagsnachmittage opferte er zum Gelingen des Besinnungsaufsatzes! Hätten wir ohne seine Interpretation der Hegel’schen Dialektik Karl Marx respektive den realexistierenden Sozialismus je begriffen? Eff’s Bildbesprechungen im Bender-Lesebuch und auch in Geschichte sind heute noch lebendig, ihre Aussagen immer noch gültig. Josef Blechingers geduldige Übermittlung des y=f(x) hat etliche von uns in die Philosophie geführt: es kann doch in „y“ nichts vor sich gehen, was nicht in „x“ schon angelegt ist. Die Mathematik kann vieles einfacher ausdrücken, als Worte es vermögen. Sepp Karchs Improvisationsunterricht an der Orgel und Liedbegleitung am Klavier vermitteln heute noch Lebensfreude.

Erinnerungen

„Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann“ schreibt Jean Paul. Lutz Großmann ergänzt im „Sasbacher 2010“: „Je schöner und voller die Erinnerung, desto schwerer ist die Trennung, aber die Dankbarkeit verwandelt die Erinnerung in eine stille Freude“. Die erleben wir heute: 0= f (E). 

Ohne Franz Xaver Lender gäbe es unsere lebensfrohe Begegnung von Alt und Jung hier in Sasbach nicht, deshalb noch eine Funktion : G=f(L), wobei (G) für Geborgenheit und (L) für Lender steht. Lenders Tatkraft, Hingabe, sein Mut und Gottvertrauen schufen diese Bildungsstätte. Kenntnis, Klugheit, Kultur, Kreativität und Kommunikation prägen sie noch heute.

Dietfried Scherer – Direktor der Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg sagte mir kürzlich: „Sasbach in Verbindung von Alt und Jung ist eine

Ausnahmeerscheinung in der Schulstiftung. Erinnerungen und Eingebungen von gestern und heute macht die „Lender“ einmalig.“ Und wir dürfen sagen: wir gehören dazu: „Gratias agimus“.

In unserem Abiturjahr 1961 wurde die unselige DDR-Mauer errichtet. Das „Weißt Du noch…“ der Jubilare möchte ich deshalb noch aus einer besonderen Perspektive mit meinem Sonthofener Schulfreund Dr. Hansfried Heier reflektieren dürfen: Als wir am Vorabend des 03.12.1956 zu Franz Xaver Lenders Namenstag nach Sasbach kamen, lag noch Brandgeruch in der Luft. Vom ursprünglichen Wirtschaftsgebäude der Heimschule waren verkohlte Balken und ein Aschehaufen übrig geblieben. Es herrschte hektische Geschwätzigkeit über die Brandstiftung. Wohl auch in diesem Zusammenhang waren zwei Schüler dimittiert worden und wir beide fanden Aufnahme in der „Benz-Villa“ (heute Schulbibliothek). „0, quae mutatio rerum“: Von „Nichtsesshaften“ der Notunterkunft des Freiburger Kolpinghauses nach der Flucht aus der DDR wurden wir über Nacht zu „Wohlhabenden“ der noch jungen BRD. Wilhelm Benz empfing uns nach unserem „Grüß Gott, Herr Direktor“ mit der überraschenden Feststellung: „Net wahr, Ihr sprecht aber schon gut deutsch“! Er hatte den ungarischen Aufstand im Oktober 1956 mitbekommen und uns schlichtweg für Ungarn oder gar Sowjets gehalten.

Die rasche Aufnahme in die Heimschule Lender hatte Prälat Dr. Stiefvater aus Freiburg mit seinem früheren theologischen Kurskollegen, Rektor Erich Riehle, vorbereitet. Am Freiburger Berthold-Gymnasium hätten Frieder und ich wohl

kaum fünf Jahre Französisch und drei Jahre Latein nachholen können. In Sasbach war das möglich. Deswegen danken wir unseren unvergessenen Sasbacher Lehrern Alfons Hasel und Nepomuk Schwarz noch einmal herzlich mit einem „Vergelt’s Gott“. Sie haben das schier Unmögliche in einem halben Jahr mit uns geschafft. Wir wurden zu Ostern 1957 in die Sekunda versetzt.

In Sasbach damals – außen wie innen – erlebten wir einen Bauboom ohnegleichen. Nach der Brandstiftung 1956 musste das gesamte Wirtschaftsgebäude erneuert werden. Noch heute tönt das „Ottl-Gedicht“ eines Zimmermannes beim Richtfest in meinen Ohren (Otto Zug war wohl gemeint, unser damaliger Mathelehrer und Junggeselle aus Reutlingen, der Leib und Seele für Lenders Werk einsetzte): „Der Ottl mit dem dicken Bauch, er sah das Feuer und den Rauch und löschte ohne Wasserschlauch“. Wir sangen beim Richtfest im Schülerchor dazu.

Lender hatte die abgefackelten Stallungen noch errichten lassen – Kommentar von Heinrich Hansjakob, badischer Heimatdichter und enger Freund Lenders, als er zu Lenders Namenstag kam und den Rinderbestand der Lender’schen Anstalt musterte: „Nicht wahr, Xaveri, das sind Deine richtigen Studenten, die da drinne“. Das passte zu Hansjakob und war typisch für seinen Humor. Zumindest bei unserer etwas kläglichen Darbietung des Hymnus: „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre…“ v. Beethoven bei der Grundsteinlegung unserer Heimschulkirche 1957 unter freiem Himmel hätten die kräftigeren Stimmen von Kühen sicher mehr bewirkt. Rektor Riehle hatte mit uns Halbwüchsigen nur in geschlossenen Räumen geprobt. Er verschätzte sich bei der Darbietung unter freiem Himmel; Playback kannte man noch nicht. Besser als Beethovens Hymne klappte es im folgenden Jahr (1958) mit der ersten Fernsehsendung „Augen auf im Verkehr“ aus der Heimschule Lender. Unser damaliger Musiklehrer Peter Seger, ein großartiger Tonmeister aus Offenburg, hatte diese von ihm komponierte Jugendoper perfekt zur Aufführung gebracht. Ich spielte Akkordeon und kann noch heute das „tatü-tata“ (a-cis/d) auf allen Tastinstrumenten schrillen lassen.

Ausblick

Was wir heute aus und über Sasbach hören, erfüllt uns mit Stolz. Darf ich sagen: das Evangelium hat sich in „Gottes Reich in unserer Heimat“ erfüllt. Das möchten wir mit dem ehernen Geschenk aus Freiburg symbolisieren. Es ist zwischen Küche, Kunst und Kirche in unserer geliebten Sasbacher Heimschule verewigt.  „Die Wahrheit wird euch freimachen“ (Joh.) steht in Goldlettern an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität. Gegen die Wahrheit gibt es nichts Bleibendes. „Was glänzt, ist für den Augenblick geboren, das Echte  bleibt der Nachwelt unverloren“ (Goethe, Faust I).

Lenders machtvolles Wertegerüst ist Wahrheit. Sie verbindet Alt und Jung, wie wir das heute wieder erleben dürfen. „Aus Werdenden ist viel mehr zu lernen als aus Vollendetem“ beginnt Direktor Großmann seinen Heimschulbericht im „Sasbacher 2011″. Dies im Blick wollen wir Altsasbacher mit euch Jungsasbachern weiter auf Lenders Spuren wandeln und uns nicht vorschreiben lassen, was zu denken und zu tun ist. In diesem Zusammenhang hat mich die Frage einer 16-jährigen Schülerin bei den Dreharbeiten 2007 zum Lender-Film nach dem „Festungsviereck“ tief berührt. Sie beweist den umfassenden Horizont der Geschichtlichkeit bei Jungsasbach und stimmt uns Altsasbacher zuversichtlich. „Nec omnia apud priores meliora, sed vestra quoque aetas multa laudi et artium imitanda posters ferit“ (Tacitus). „Nicht alles war bei den „Alten“ besser, auch Eure Zeit bringt viel Lebenswertes und Kunstvolles, Nachahmenswertes für Eure Nachfahren hervor“, haben wir bei Lehrer Nowack gelesen.

Das ist schön! „Jeder, der sich die Fähigkeit erhält, Schönes zu erkennen, altert nie“, schrieb Franz Kafka. So blicken wir Jubilare zuversichtlich mit Euch Jungsasbachern nach vorn. Wir danken für die Erhaltung unserer Heimschule als Lebensbund und entbieten Euch das „Lender-Du“.

„Aufsteigt der Strahl und fallend gießt

er voll der Marmorschale Rund,

die, sich verschleiernd, übergießt

in einer zweiten Schale Grund;

die zweite gibt, sie wird zu reich,

der dritten wallend ihre Flut,

und jede gibt und nimmt zugleich

und strömt und ruht.“ (C. F. Meyer)

 

„Wo Gott ist, da ist Zukunft.“

Predigttext anlässlich des Altsasbachertages 2011

Dekan Martin Schlick, Sinzheim

Der Papstbesuch, der vor wenigen Wochen bei uns in Deutschland zu Ende ging, hatte als Motto: „Wo Gott ist, da ist Zukunft.“

Genau dieses Motto sehe ich in dieser kleinen Szene erklärt. Da wird Jesus eine Frage gestellt, auf die er eigentlich nur mit Ja oder Nein antworten sollte. Und weil die damaligen politischen Zusammenhänge mit dieser einfache Antwort – Ja oder Nein – Jesus in eine höchst brenzlige Situation geführt hätten, halte ich das nicht nur eine geniale Antwort, mit der sich Jesus geschickt aus der Zwickmühle zieht. Es ist mehr, denn Jesus sagt mit dieser Antwort mehr als die Phariäser hören wollten.

Es ist wie ein biblischer Kommentar zum Motto: „Wo Gott ist, da ist Zukunft“. Hätte Jesus nämlich mit „Ja“ geantwortet, dann hätte er die bestehende Besetzung durch die Römer akzeptiert und hätte es mit seinen Landsleuten verscherzt. Hätte er mit „Nein“ geantwortet, dann hätte er zum offenen Widerstand gegen den Kaiser aufgerufen. Doch indem Jesus über die Antwortmöglichkeiten hinaus in den Bereich Gottes blickt, öffnet er andere Horizonte. Er verheddert sich nicht in diese Fangfrage, er hält sich nicht nur am Tagesgeschäft auf, sondern stellt alles in einen großen Zusammenhang Gottes – und er befreit damit zu einer neuen und anderen Gottesbeziehung.

Und dabei ist doch klar, dass die kaiserliche Steuer und das, was wir Gott “geben”, nicht auf einer Stufe stehen. Nur denken wir Menschen nicht zu oft Gott gegenüber genau in dieser gleichen menschlichen Kategorie. Es ist deshalb nicht von ungefähr, dass viele Menschen den Glauben als eine Pflicht sehen; man ist froh, wenn diese Pflicht erfüllt ist.

Aber indem Jesus diese Münze aufnimmt, wird nicht mehr die Frage angestoßen: Was muss ich tun, damit ich meine Ruhe habe?,  sondern es gilt: „Vor Gott ist eigentlich nie genug!“ Die Fragesteller hatten genau das aber im Blick. Wann kann ich hinter mein Tun ein Häckchen machen, und wann ist alles o.k.? Jesus öffnet nicht nur einen weiten Horizont, sondern betont damit: Was wir Gott geben, ist ein MEHR, ein MAGIS. Die Frage nach Gott ist nie zu Ende, sie bleibt immer höchst aktuell.

Im Frühjahr hatte unser Erzbischof Robert Zollitsch zum Dialogprozess aufgerufen. Unter den drei Fragehorizonten, die ihm am Herzen liegen, lautet einer: Was hat die Welt mit Gott zu tun? In einer Ausgabe des Konradsblattes hat der Freiburger Theologe und Professor für Fundamentaltheologie M. Striet diesen Gedanken aufgenommen Was hat die Welt mit Gott zu tun? Doch er drehte diese Frage um und formuliert: „Was hat Gott mit der Welt zu tun?“.

Und nach einigem Überlegen kommt er auf den Punkt: „Wenn wir ehrlich sind“, meint er, „haben wir längst gelernt, die Welt so zu betrachten, als ob es Gott nicht gäbe.“ Und dann zählt er Beispiele auf: „Wer wollte auf die Errungenschaften der modernen Medizin verzichten?“ „Während Generationen vor uns noch einen Blick gen Himmel richteten, vielleicht ein Stoßgebet sprachen, suchen wir sofort das nächste Krankenhaus auf….“ Man mag nun gleicher Meinung sein oder anderer – die Frage steht durch dieses Evangelium im Raum: Gebt Gott, was Gott gehört.

Liebe Mitchristen, das sehe ich als einen Impuls an, dass wir sozusagen mit den Münzen unserer Tage immer wieder darauf hingewiesen werden, Gott zu geben, was Gott gehört. Ich möchte es „Kleingeld“ nennen, mit dem wir antworten, weil es oft auch kleine Dinge sind, mit denen wir zeigen können, was Gott gehört.

  • Am Donnerstag besuchte ich eine 50jährige Frau. Das Sprechen fiel ihr schwer, aber sie konnte mit klarem Verstand alles verfolgen; sie saß vor mir im Rollstuhl, wie gelähmt, ja litt darunter. Könnte nicht eine Münze heißen: Ich darf jeden Tag aufstehen, kann mich bewegen, bin – mehr oder weniger – gesund. Warum denn nicht dafür Gott danken? Gebt Gott, was Gottes ist!
  • Vielleicht hatte das sogar unser damaliger Chemielehrer auf seine Weise aussagen wollen, wenn er regelmäßig in der ersten Stunde mit der tiefsten Bassstimme, die es je gab, das Adventslied „Tauet Himmel den Gerechten“ anstimmte. Wir Schüler hatten manchmal darüber geschmunzelt oder in uns darüber gelacht!
    Vielleicht war das die Münze, die er vorfand und die ihm bedeutete: Gebt, was Gott gehört? Dass er sich einfach freute in der weihnachtlichen Vorbereitungszeit und uns, die damals pubertierenden Schüler, mitnehmen wollte!?
  • Was wäre mit dem Sonntag, den wir als Christen Herrentag nennen? Hier diese Münze in die Hand zu nehmen? Gott zu geben, was Gott gehört?

Ich habe hier eine besondere Münze in der Hand. Diese Münze stammt vom 100jährigen Jubiläum unserer Heimschule Lender aus dem Jahr 1975. Auf der einen Seite ist das Schulgebäude abgebildet, auf der anderer Seite der Wahl- und Leitspruch der Heimschule Lender: „Initium sapientiae timor domini – Am Anfang der Weisheit steht die Erfurcht vor Gott.“ Diese Münze war ein Erinnerungsstück an dieses Jubiläum damals, aber auch ein Impuls an Schüler und Lehrer damals:„Leute, bevor es ans Lernen geht, vor allem ans Studieren, bevor ich alle Weisheit dieser Welt in mir habe – ist der richtige Blick auf Gott wichtig“.

Wir sind alle Schüler, ob nun jene, die hier noch die „Schulbank drücken“, auf ihr Abitur warten, oder jene, die wie ich heute zum Altsasbachertag zusammengekommen sind: Auch diese Münze sprechen zu lassen – das wäre der Impuls heute! Gebt Gott, was Gottes ist …

Das wäre sicherlich ein vielstimmiger Chor, wenn wir diesen Impuls aufnehmen und uns alle darauf einlassen: Gott das zu geben, was Gott gehört. Denn wir alle stehen ja in den unterschiedlichsten Beziehungen in dieser unserer Welt.

Und da mag es am Anfang zugehen wie in der Hymne, bei der ich zu besagtem Jubiläum der Heimschule Lender mitgesungen hatte: „Initium sapientiae timor domini.“ In der Mitte kommen ein Abschnitt vor: parlando. Das ist wie ein Sprechgesang, ein deutliches Sprechen eines Satzteiles oder nur eines Wortes.

Alle Sänger im Chor sprachen die Worte: Initium sapientiae timor domini – laut und deutlich, aber in eigenem Rhythmus, in eigener Stimmlage, in eigener Geschwindigkeit und in eigener Betonung. Von allen Seiten wurde gleichsam ein Echo dieser vielfach gesprochenen Worte: „Initium sapientiae timor domini“ gebrochen und zurückgegeben: Zischeln, Huschen und Murmeln daher.

Was die Zuhörer verstanden, ich weiß es nicht. Ich vermute aber: Sie habe ein Durcheinander gehört, vielleicht sogar nur wahrgenommen – hier wird gesprochen. Aber weil alles so chaotisch und durcheinander klang, hatten sie wohl überhaupt nichts verstanden, nicht einmal das Wort. Doch auf einmal lichtete sich dieses Durcheinander. Denn zum Schluss sprachen alle – ich möchte sagen „einstimmig“ – „Initium sapientiae timor domini – Am Anfang der Weisheit steht Ehrfurcht vor Gott“.

Aus dem undurchdringlichen und schweren Sprachnebel öffnete sich eine Weite, die durch die anschließende beschwingte, ja verjazzte Melodie eine Fröhlichkeit und einen Horizont eröffnete, der am Anfang überhaupt nicht zu erkennen war. Das Staunen, die Ehrfurcht vor Gott wurde gleichsam hereingelassen. Die Freude darum, dass wir doch in Gottes Hand leben dürfen. Eine Perspektive öffnete sich, die sonst verloren gegangen wäre.Es ist das Fenster, das auch Jesus mit seiner Antwort auf die Streitfrage der Pharisäer öffnete. Es ist das Fenster, das er öffnete, weil doch Gott immer ein MEHR, ein MAGIS ist, größer ist Indem ich Gott das gebe, was Gottes ist, tut sich ein neuer Horizont auf.

Das traut uns Jesus zu. Amen